Neue Westfälische

Chef der Sicherheitskonferenz für Nato-Beitritt der Ukraine

24. April 2023

Christoph Heusgen spricht beim IHC in Bielefeld über die Folgen der „geopolitischen Zeitenwende“. Foto: Sarah Jonek

Der frühere Merkel-Berater Christoph Heusgen kritisiert bei einem Auftritt vor der ostwestfälisch-lippischen Wirtschaftselite die Rüstungshilfen für die Ukraine als zu zögerlich – und fordert die Bundesregierung auf, ihre „Hausaufgaben zu machen“.

 

Bielefeld. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, hat sich nachdrücklich für einen Nato-Beitritt der Ukraine ausgesprochen und vor dem verteidigungspolitischen Gegenentwurf gewarnt. „Ich glaube, dass wir uns ernsthaft überlegen sollten, die Ukraine in die Nato aufzunehmen“, sagte Heusgen vor dem Industrie- und Handelsclub (IHC) Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld. Die Alternative dazu sei, „dass wir die Ukraine vollstopfen mit Waffen“, erklärte der Diplomat: das Land „so aufrüsten, dass ein Wladimir Putin oder ein Nachfolger sich dreimal überlegt, dort anzugreifen“.

Die Bundesregierung hatte in dieser Frage zuletzt gebremst. Derzeit gebe es keine Entscheidung über einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine. Im Vordergrund stehe die weitere militärische, finanzielle und humanitäre Unterstützung des Landes, sagte eine Regierungssprecherin in Berlin. In diesem Punkt sei man sich mit den Partnern einig.

Als außen- und sicherheitspolitischer Berater im Kanzleramt war Heusgen an den Verhandlungen zum Minsker Friedensabkommen, kurz „Minsk II“, von 2015 beteiligt, das mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 vollständig scheiterte. Er habe „viele Tage in Minsk gesessen, um zu verhandeln“, erzählte Heusgen vor den IHC-Mitgliedern. Die Ergebnisse habe der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine „in die Tonne getreten“.

Heusgen nahm sich in Bielefeld den von Kanzler Olaf Scholz (SPD) geprägten Begriff der „Zeitenwende“ vor. In den USA sei davon immer häufiger zu hören. US-Präsident Joe Biden und Scholz pflegten ein vertrauensvolles Verhältnis, der Kanzler müsse sich aber an seinen eigenen Worten messen lassen, sagte Heusgen. Deutschland habe das Zwei-Prozent-Ziel noch immer nicht erreicht, „damit werden wir auf Dauer nicht durchkommen“.

Die Vereinbarung sieht vor, dass sich alle Nato-Mitglieder dem Richtwert annähern, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für den Wehretat auszugeben. Heusgen mahnte, „wir müssen in Europa sehen, dass wir unsere Hausaufgaben machen“.

In einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“ hatte der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zuvor die bisherigen Rüstungshilfen für die Ukraine als „zu zögerlich“ kritisiert. Das gegenwärtige Niveau schrittweiser militärischer Unterstützung werde „nur ein Patt auf dem Schlachtfeld bewirken“. Stattdessen müsse der politische Westen bei seiner militärischen Hilfe „aufs Ganze gehen“. In dem Text heißt es, Putin habe sämtliche Kriegsaspekte falsch eingeschätzt, als er die Invasion der Ukraine angeordnet hatte. „Er glaubte, seine Armee sei stark, China zu Hundert Prozent hinter ihm, die Ukraine schwach und der Westen gespalten. Er hätte sich nicht mehr täuschen können.“

Gefragt nach seinen persönlichen Favoriten für die Nachfolge von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, nannte Heusgen vor dem Industrie- und Handelsclub in Bielefeld die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas. „Ich glaube aber nicht, dass sich die Mehrheit in der Nato einigen wird auf einen Osteuropäer“, sagte der 68-jährige Sicherheitspolitiker, der grundsätzlich auf eine Nato-Generalsekretärin hoffe. Zu seiner „zweiten Favoritin“ erklärte Heusgen die kanadische Vizeregierungschefin Chrystia Freeland. „Eine tolle Frau.“