Zhengrong Liu, Berater, Coach und Autor zu Gast beim IHC (v. l. IHC Präsident Eduard R. Dörrenberg, Zhengrong Liu, Gastgeber des Abends Michael W. Böllhoff)
Zhengrong Liu gilt als einer der profundesten Kenner der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft – und als Brückenbauer zwischen China und Deutschland. Mitte Juni war der Unternehmer, Berater und langjährige China-Experte zu Gast beim Industrie- und Handelsclub OWL, IHC. Im Rahmen einer kleinen Vortrags- und Diskussionsveranstaltung auf dem Bildungscampus der Wilhelm Böllhoff GmbH & Co. KG sprach Liu über den Wandel Chinas, die geopolitischen Spannungen – und die Rolle des deutschen Mittelstands. Ein besonderer Dank gilt Michael W. Böllhoff für die Einladung und Ausrichtung dieser Veranstaltung sowie für die Moderation des Abends.
Schon zu Beginn seiner vielschichtigen und eindringlichen Rede machte Liu deutlich: Weder das westlich-liberale noch das chinesische System sei frei von Widersprüchen oder Problemen. Statt Überlegenheit zu behaupten, brauche es gegenseitigen Respekt und Dialog. „Internationale Politik folgt nicht Idealismus, sondern realen Kräfteverhältnissen“, so Liu. China denke und handle außenpolitisch zunehmend nach westlichen Lehrbüchern – etwa entlang des politischen Realismus à la Kissinger. Deutschland und Europa müssten diese Realität anerkennen und geopolitisch souveräner agieren.
Gleichzeitig betonte Liu die „gesellschaftliche Dynamik“ Chinas: Bildungshunger, Disziplin und Innovationskraft prägen eine junge Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern, die ohne Auslandserfahrung oder Herkunftsprivilegien Unternehmen wie TikTok, DeepSeek oder Little Red Book aufgebaut haben – technologisch führend, international erfolgreich. „In China entsteht Wirtschaft aus der Breite, nicht aus Eliten“, so Liu. Der deutsche Mittelstand müsse diese neue Dynamik ernst nehmen – und seine oft in Traditionen verankerten Innovationsmodelle hinterfragen.
Kritik äußerte Liu an der westlichen Berichterstattung über China: Medien zeichneten ein weitgehend negatives und verzerrtes Bild – Umweltprobleme, soziale Spannungen oder autoritäre Strukturen würden zu stark betont, wirtschaftliche Erfolge und gesellschaftlicher Wandel hingegen kaum abgebildet. Diese Einseitigkeit führe zu ideologisch aufgeladenen Debatten und verhindere eine nüchterne, strategisch ausgerichtete China-Politik.
Zugleich warb Liu nicht für Naivität: Der Umgang mit China sei anspruchsvoll und müsse differenziert erfolgen. Vertrauen entstehe nicht durch Distanz, sondern durch konkrete Kooperation – etwa bei Fragen wie Klimaschutz, Energie oder Hungerbekämpfung. Auch für Unternehmen gelte: Wer sich auf Zusammenarbeit einlässt, baue tragfähige Beziehungen auf – selbst bei kontroversen Themen.
Multipolare Welt braucht neue Denkmodelle
In der anschließenden Fragerunde stand die Zukunft der Globalisierung im Fokus – insbesondere mit Blick auf den Trend zur wirtschaftlichen Lokalisierung („Local for Local“). Liu verwies auf die positiven Effekte globaler Arbeitsteilung, mahnte aber zugleich an, die „Verlierer der Globalisierung“ nicht zu vergessen. Eine vollständige Entkopplung oder Rückverlagerung industrieller Wertschöpfung sei weder realistisch noch wirtschaftlich effizient: „Kein Land kann alles alleine. Auch China bleibt auf internationale Vernetzung angewiesen.“
Der Mittelstand solle sich daher nicht von protektionistischen Reflexen leiten lassen, sondern eigene Netzwerke, Bildungspartnerschaften und Fachkräfteinitiativen weiterentwickeln. Projekte wie der Böllhoff-Bildungscampus nannte Liu als vorbildlich.
Auch zur Debatte um Fachkräftemangel äußerte sich Liu differenziert: Während hochqualifizierte Tech-Fachkräfte eher im Überfluss vorhanden seien, zeige sich der Engpass vor allem bei wenig attraktiven Dienstleistungsberufen. Die Herausforderung liege darin, mit Überfluss und Mangel zugleich umzugehen – eine Aufgabe, die Technologie wie KI künftig mitprägen werde.
Fazit für Entscheider in OWL: Brücken bauen statt Blöcke denken
Zhengrong Lius Appell war unmissverständlich: Wer wirtschaftlich mitreden wolle, müsse China in seiner heutigen Realität begreifen – jenseits alter Narrative über Billiglohn, Parteistaat oder Systemrivalität. Die neue Unternehmergeneration, die wachsende Innovationskraft und die geopolitische Eigenlogik Chinas verlangen nach einer strategisch klugen, differenzierten und pragmatischen Haltung. Gerade der deutsche Mittelstand sei gefordert, geopolitische Entwicklungen ernst zu nehmen – nicht mit Angst, sondern mit Offenheit, Kompetenz und Weitblick.
„Vertrauen entsteht durch Begegnung, nicht durch Distanz“ – mit diesem Schlussgedanken hinterließ Liu nicht nur einen Impuls für eine sachlichere Chinadebatte, sondern auch für die strategische Ausrichtung des Mittelstands in Ostwestfalen.