Neue Westfälische

Kinderschutz-Expertin: „Lügde hat mich schockiert, aber nicht überrascht“

22. Mai 2019

Setzt sich weltweit für die Rechte von Kindern ein: Maike Röttger, Geschäftsführerin bei Plan International. - © picture alliance / dpa

Maike Röttger, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Plan International Deutschland, spricht über Kinderrechte in Lügde, der Welt und warum der Klimawandel die größte Bedrohung für sie ist

Frau Röttger, Plan International setzt sich weltweit für Kinderrechte ein. Haben Sie den Fall Lügde verfolgt?

Maike Röttger: Ja. Diese Art des Kindesmissbrauchs, diese Taten, das macht vor keinem Land der Welt Halt. Der Fall an sich hat mich total schockiert, aber dass das auch in Deutschland passieren kann, damit muss man immer rechnen.

Dass Kinder so ausgebeutet werden, emotional wie körperlich, ist ihnen wahrscheinlich aus ihrer Arbeit bekannt.
Röttger: Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass Lügde dazu führt, dass nochmal stärker in den Fokus gerückt wird, warum wir Kinderrechte brauchen – auch bei uns im Grundgesetz. Dann hätte man rechtlich andere Möglichkeiten des Schutzes.

Warum müssen Sie eigentlich immer noch auf Tour gehen, zum Beispiel beim Industrie- und Handelsclub in Bielefeld, um über Kinderrechte zu informieren?
Maike Röttger: (lacht) Ich toure nicht. Aber ich komme gern, wenn ich eingeladen werde. Das hat mit Transparenz zu tun, wir wollen unseren Spendern ja zeigen, was wir tun und was wir bewirken können. Aber ich erlebe auch, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, wie unsere Arbeit, die Entwicklungszusammenarbeit, eigentlich aussieht.

Sind uns Kinder also immer noch nicht wichtig genug?
Röttger: Das würde ich nicht sagen. Aber die Kinderrechte sind längst noch nicht da, wo sie sein müssten. Auch in Deutschland sind Kinderrechte nach der Kinderrechtskonvention, die jetzt bald 30 Jahre alt ist, noch nicht im Grundgesetz verankert. Und in der Welt werden sie längst noch nicht überall so umgesetzt, dass sie auch tatsächlich zum Wohle der Kinder funktionieren.

Woran hapert es?
Röttger: Beispiel Kinderheirat: In vielen Ländern werden Mädchen verheiratet, bevor sie 14 sind. Meist werden sie bald schwanger, und wenn sie das überhaupt überleben, werden sie sicherlich danach nicht zur Schule gehen. Das heißt sie kommen aus dem Kreislauf der Armut gar nicht heraus. Es leben allein 700 Millionen Frauen auf der Welt, die unter 18 verheiratet wurden.

Im Sudan hat ein Vater seine Tochter bei Facebook zur Hochzeit angeboten. Sie soll für 500 Kühe und drei Autos verkauft worden sein. Zu den Bietern gehörten reiche Geschäftsleute des Landes.
Röttger: Das verdeutlicht, in was für einer Situation die Frauen dort leben. Ich war 20 Jahre Journalistin, dachte eigentlich, dass mich nichts mehr erschrecken kann. Aber dieses Ausmaß an Diskriminierung, einfach nur weil diese Menschen weiblich sind, hatte ich so nicht erwartet.

Was ist die größte Katastrophe der jüngeren Vergangenheit für Kinder, von der hier kaum jemand weiß?
Röttger: Ich kann mir gerade keinen schlimmeren Ort für Kinder, gerade für Mädchen, vorstellen, als in der Region am Tschadsee in Nigeria. Ein riesiges Reservoir, dass zu 80 Prozent verlandet ist. Der Klimawandel ist eine der größten Bedrohungen für Kinder weltweit. Die Leute verlieren ihre Lebensgrundlage, 17 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Kinder können überhaupt nicht zur Schule gehen. Und dann sind da Boko Haram, die angetreten sind, um die Bildung von Mädchen zu verhindern. Das ist das Perfideste, was es überhaupt gibt. Außer dem Schlaglicht, das die Entführung der Chibok-Mädchen vor fünf Jahren auf die Region geworfen hat, bleibt der tägliche Überlebenskampf der Menschen dort weitgehend unbeachtet.

Was macht ihnen Mut?
Röttger: Beispiele wie das von Urmila aus Nepal. Die ist mit fünf oder sechs Jahren von ihrem eigenen Bruder als Sklavin verkauft worden. Nachdem sie als Jugendliche befreit wurde, konnte sie erstmals zur Schule gehen und hat dann eine Widerstandsbewegung gegründet und im Land mobilisiert, damit diese Tradition, Mädchen zu verkaufen, abgeschafft wird. Offiziell gibt es das in Nepal jetzt nicht mehr, aber natürlich sitzen diese Traditionen tief. Das bleibt also Teil unserer Arbeit.

Das klingt nach wichtigen, aber eher vereinzelten Erfolgen.
Röttger: Ja, aber wir hatten zuletzt auch zwei Zyklone, die auf Ostafrika und Indien getroffen sind. Wenn Sie sehen, wie gering die Opferzahlen da waren, dann hat das mit teils jahrelanger Vorbereitung zu tun, mit Evakuierung, mit Warnsystemen. Dass es das mittlerweile gibt, daran haben die Hilfsorganisationen großen Anteil.