Westfalen-Blatt

Manifest für ein „neues Land“

11. September 2020

Die Bielefelderin Verena Pausder zählt zu den bekanntesten Gesichtern der Start-up-Szene in Deutschland. Das Bild zeigt sie mit der App der von ihr gegründeten Firma Fox & Sheep. Foto: dpa Die Bielefelderin Verena Pausder zählt zu den bekanntesten Gesichtern der Start-up-Szene in Deutschland. Das Bild zeigt sie mit der App der von ihr gegründeten Firma Fox & Sheep. Foto: dpa

Start-up-Unternehmerin Verena Pausder:

Deutschland muss sich endlich digitalisieren

Bielefeld (WB). Die Pandemie wird derzeit von vielen vor allem als Gefahr wahrgenommen. Hinter dem Berg von Maßnahmen zur Krisenbewältigung verschwindet die Frage: Und was kommt danach? Klar, ein großer Schuldenberg. Aber auch viele Chancen. Sie sind das Thema eines Buchs von Verena Pausder, das in diesen Tagen in die Buchläden kommt.

Pausder ist das bekannteste weibliche Gesicht der ansonsten mehrheitlich von jungen Männern dominierten Start-up-Szene in Deutschland. Sie gehört zur zehnten Generation des alteingesessenen Bielefelder Familienunternehmens Delius. Aber ihr Interesse gilt vor allem den Chancen der Digitalisierung. Diese wird, das glaubt sie, Deutschland verändern. Daher der Titel des Buchs: „Das neue Land“. Es soll nicht nur Vision sein, sondern auch praktische Anleitung.

Pausder hat mehrere Start-ups und nicht kommerzielle Initiativen erfolgreich auf den Weg gebracht. Das bekannteste ist die Plattform für Internetangebote für Kinder, Fox & Sheep, die sie später an den Spielwaren-Hersteller Haba verkauft hat. Wichtig, so schreibt sie, waren aber noch drei andere Erfahrungen. Obwohl beide Eltern Unternehmer waren, musste sie als Kind in der Textilfabrik arbeiten und Wollmäuse aufsammeln, um sich ihre Reitstunden zu verdienen. Das verlieh ihr, so schreibt Pausder, eine realistische Sicht auf die Notwendigkeit der Arbeit. Eine bessere Sicht auf die soziale Wirklichkeit erhielt sie ausgerechnet im Kreißsaal durch den Kontakt zu einer gleichzeitig gebärenden drogenabhängigen Mutter. Das Scheitern ihres ersten Start-ups, der Franchise-Restaurantkette Salatbar, lehrte sie, das Scheitern gehört zum Unternehmertum. Schlimmer sei es, aus Angst vor Fehlern nichts zu probieren und nichts zu riskieren. Lieber nicht gründen als insolvent gehen: Das bringe den Standort Deutschland nicht voran.

So nimmt sie auch für ihr Manifest – nichts weniger als dies ist ihr Buch – in Anspruch, dass nicht alle ihre Ideen und Forderungen von Erfolg gekrönt sein müssen. Hat sie bisher etwa als Talkshow-Gast selbst viel Energie darauf verwendet, Fehler und Versäumnisse zu analysieren, so plädiert sie jetzt leidenschaftlich dafür, dass mehr Menschen Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Mit Corona habe das 21. Jahrhundert noch einmal begonnen.

Ihre Vision des neuen Landes bleibt nicht in Schlagworten stecken, sondern wird konkret. Das Homeoffice dürfe keine Episode bleiben; auch der Online-Unterricht müsse weitergehen, vielleicht ein Tag in der Woche – ein Upgrading der technologischen Ausstattung der Schulen vorausgesetzt. Den Familien schlägt sie eine „Zukunftsstunde“ vor, in der Kinder und Eltern berichten, was sie im Internet neu entdeckten.

Sogar einer Vermögensabgabe gehört zu den Vorschlägen für das „neue Land“. Allerdings müssten die Einzahlungen dafür genutzt werden, Innovationen zu fördern. Davon profitierten am Ende alle.

Die Politik krankt nach Ansicht der Autorin in Deutschland daran, dass es zu wenige Wechsler von der Wirtschaft in Politik und Verwaltung und zurück gebe. Konkret schlägt Pausder vor, dass Beamte alle zwei Jahre ein Pflichtpraktikum in Unternehmen absolvieren und Führungskräfte in der Wirtschaft zeitweise in einer Verwaltung mithelfen. Ein Viertel der Fraktionen solle von Quereinsteigern gestellt werden.

Weiter moniert Pausder, Parteiwechsel seien in Deutschland schlecht angesehen. Frauen kämen bei Spitzenpositionen immer noch zu selten zum Zuge. Ihr Vorschlag fürs „neue Land“ ist ziemlich radikal: Schon in den Schulen bei einigen Leistungskursen und in den Universitäten bei bestimmten Studienfächern müsse es eine Verpflichtung geben, mehr Mädchen und Frauen aufzunehmen. Väter müssten auch in Spitzenpositionen öfter Auszeiten nehmen. Pausder wörtlich: „Wir müssen weg von diesem Bild des Kriegers, der im Vorstand sitzt, immer hart an der Front kämpft und dessen Job zu keinem Zeitpunkt eine Unterbrechung duldet.“

Pausder, die 2019 ins Präsidium des Industrie- und Handelsclubs OWL gewählt wurde, formuliert ihre Thesen in knappen Sätzen. Das kürzeste Kapitel, nur eine Seite, ist dem Klimaschutz im „neuen Land“ gewidmet. Leitinstrument solle der CO2-Preis sein. Nachhaltigkeit sei die weitergehende Forderung. Dafür schlägt sie eine nGmbH vor – eine nachhaltige GmbH – oder eine Gesellschaft in Verantwortungseigentum (GVE), wie es sie in angelsächsischen Ländern gebe. Die Überprüfung der Gemeinnützigkeit sei beim Finanzamt in guten Händen.

von Bernhard Hertlein

Verena Pausder: Das neue Land – wie es jetzt weitergeht, Murmann-Verlag, 200 Seiten, 20 Euro.